Interview mit Schwester Clara-Maria

Schwester Clara-Maria Siesquén Piscoya ist Regionaloberin der peruanischen Schwestern und ist Mitglied des Generalrats der Kongregation. Im Interview spricht sie darüber, was die Anziehungskraft des vinzentinischen Charismas ausmacht und wie Betriebswirtschaft und Gottvertrauen ineinander greifen können.

Wie haben Sie gespürt, dass Sie zum Leben in der Ordensgemeinschaft berufen sind?
Schwester Clara-Maria: Gott bereitet uns die Wege – das ist etwas, das ich tief erfahren habe. Ich hatte das Glück, in einer sehr religiösen Familie aufzuwachsen. So war ich von Jugend an aktiv in der Kirchengemeinde, besonders in der Jugendpastoral. Es war in dieser Zeit, dass ich meine Berufung gespürt habe.
Mein Weg wurde auch durch eine geistliche Begleitung geprägt. Mit meinem geistlichen Begleiter habe ich intensiv die Unterscheidung der Geister geübt, um zu erkennen, wohin Gott mich führen möchte. Anfangs hatte ich nicht die Vorstellung, eine Ordensfrau zu werden. Mein Wunsch war es, Missionarin zu sein, jedoch nicht innerhalb einer Ordensgemeinschaft. Doch Gott hatte etwas anderes mit mir vor.

Welche besondere Anziehungskraft hatte die Kongregation der Barmherzigen Schwestern für Sie?
Für mich war der Heilige Vinzenz von Paul der erste große Anziehungspunkt. Er erscheint mir als ein sehr menschlicher Heiliger, und ich hatte stets das Gefühl, dass sein Beispiel gut zu mir passt.
Im Laufe der Zeit, als ich die Schwestern besser kennenlernte und sah, wie und wo sie arbeiteten, wuchs meine Verbundenheit. Ihre sozialen Projekte und Einrichtungen beeindruckten mich tief. Besonders faszinierte mich das Charisma des Heiligen Vinzenz, das zeigt, wie christliche Nächstenliebe organisiert sein kann.
Da ich Betriebswirtschaftslehre studiert habe, fühlte ich mich durch diese Verbindung besonders angesprochen. Es gab für mich einen Platz, an dem ich meine berufliche Expertise und meine Berufung zusammenbringen konnte. Ich konnte sehen, dass ich als Betriebswirtin einen sinnvollen Beitrag leisten kann.
Was mich jedoch am meisten berührt hat, ist die Art und Weise, wie die Vinzentinerinnen die Armen sehen. In jedem armen Menschen sehen sie Christus selbst. Diese unmittelbare Beziehung zu Christus durch den Dienst am Nächsten bewegt mich bis heute tief.

Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Schwesternnamen zu wählen?
Die Wahl meines Schwesternnamens ist für mich sehr bedeutend und tief verwurzelt in meiner Gottesbeziehung. Die Heilige Clara hat mich besonders inspiriert, da ich sie als eine eindeutig eucharistische Frau sehe, deren Leben von einem starken eucharistischen Gottesbezug geprägt war.
Auch für mich ist die eucharistische Verbindung zentral. Die Anbetung, die Teilnahme an der Eucharistiefeier und kleine Momente der Aussetzung des Allerheiligsten sind für mich wichtige Fixpunkte. Die Heilige Clara ist mir hier ein großes Vorbild.

Was sind die spirituellen Fixpunkte in Ihrem Tagesablauf?
Als Vinzentinerin ist für mich letztlich alles Gebet – sogar unsere Arbeit verstehen wir als Gebet. Wir beten, indem wir tun.Konkrete spirituelle Fixpunkte in meinem Tagesablauf sind die tägliche Eucharistiefeier und persönliche Gebetsmomente, die über den Tag verteilt sind. Besonders wichtig ist auch das Gemeinschaftsgebet mit meinen Mitschwestern. Diese Momente verbinden uns nicht nur untereinander, sondern auch mit allen Schwestern weltweit. Diese Gebetsgemeinschaft gibt mir Halt und stärkt mich in meiner Berufung.

Welchen Beruf haben Sie erlernt?
Bevor ich in die Kongregation eingetreten bin, habe ich Betriebswirtschaftslehre studiert. Nach meinem Eintritt in die Kongregation habe ich mich weitergebildet, insbesondere in der Pastoral und Katechese. Dies entspricht der Missio, wie man sie in Deutschland kennt. Dadurch war ich befähigt, Religionsunterricht zu erteilen, ohne jedoch eine vollumfängliche pädagogische Ausbildung wie eine Lehrerin zu absolvieren.

Welcher Tätigkeit gehen Sie heute nach?
Derzeit bin ich als Regionaloberin der Region Peru tätig. Meine Hauptverantwortung liegt darin, für das geistliche, körperliche und seelische Wohlergehen der Schwestern zu sorgen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Unterstützung der Schwestern in ihren Einrichtungen und Arbeitsfeldern. Zusätzlich bin ich Mitglied des Generalrats der Kongregation und trage als Generalrätin Verantwortung auf internationaler Ebene. Eine weitere Aufgabe ist die Trägerschaft zweier Schulen: der „Reina del Mundo“-Schule und der „Fe y Alegria"-Schule in Limas Stadtteil San Juan de Lurigancho. Hier begleite ich die Einrichtungen im Sinne der Kongregation und unserer Mission.

Wenn Sie auf Ihr Leben blicken: In welchen Momenten hatten Sie das Gefühl, besonders im Sinne der Werte des Heiligen Vinzenz und der Heiligen Luise zu wirken?
Ich bin reich von Gott beschenkt worden und habe in meinem Leben viele Momente erlebt, die ich aufzählen könnte. Doch zwei Situationen kommen mir sofort in den Sinn: Als junge Schwester lebte ich im Tiefland und erlebte ein schweres Erdbeben. Viele Menschen verloren alles – es war eine echte Katastrophe. In dieser Situation konnte ich direkt und unmittelbar helfen: bei den Menschen sein, sie unterstützen und mit ihnen ausharren. Damals habe ich das nicht so intensiv wahrgenommen, aber im Nachhinein empfinde ich es als einen Moment, in dem ich den Werten von Vinzenz und Luise besonders nahe war. Es war, als hätte ich dieses vinzentinische Gefühl von Nähe und Hingabe sehr intensiv gelebt.
Während der Corona-Pandemie trug ich als Leiterin eines Kinderheims die Verantwortung für viele Kinder, die ohnehin schon aus schwierigen Verhältnissen stammen, sowie für die Schwestern und Mitarbeitenden. Meine Aufgabe war es, alle zu schützen und sicherzustellen, dass niemand angesteckt wird. Gleichzeitig war ich die Einzige, die das Heim verließ, um Besorgungen zu machen, und habe mich dadurch selbst einer größeren Gefahr ausgesetzt. Das war eine Zeit, in der ich stark auf Gottvertrauen und Organisation angewiesen war, um meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch diese Herausforderung zu führen.

Wie können auch wir Mitarbeitenden vinzentinische Werte im Alltag leben?
Diese Frage möchte ich mit einer Geschichte beantworten, die ich während der Pandemie erlebt habe. Ich wollte den Bestand an Haferflocken des Kinderheims "Divina Providencia" mit den Menschen in unserer Nachbarschaft teilen. Ich war ja in der Stadt unterwegs und sah, wie groß die Not war. Doch unsere Köchin machte sich Sorgen: Brauchten unsere Kinder nicht auch Haferflocken? Ich antwortete mit einer Gegenfrage: „Glauben wir wirklich, dass Gott unsere Kinder ohne Essen lassen wird?“ So nahm ich fast den gesamten Vorrat mit. Und kaum war ich aus der Tür, brachte jemand einen 10-Kilo-Sack Haferflocken vorbei. Das war ein Moment, in dem wir alle das Vertrauen in Gott ganz praktisch erleben konnten. Es ist eine Lernerfahrung für alle Beteiligten, sich auf Gottes Vorsehung einzulassen. Und es ist wichtig, Werte nicht nur weiterzugeben, sondern auch offen zu sein, zu empfangen. Gott und unsere Mitmenschen halten so viel Gutes bereit. Gerade in der Pandemie habe ich erlebt, wie Gottes Barmherzigkeit und Vorsehung wirken: Während wir gaben und teilten, haben wir gleichzeitig so viel empfangen. Dieses Vertrauen in Gottes Handeln möchte ich auch anderen mitgeben.

Vielen Dank für das Gespräch!